Die schönsten Bücher schenkt mir meine Tochter. Dieses Jahr hat sie „Gehat hob ikh a Heym, Am Herzen Europas 1, Zeitgenössische jiddische Lyrik“ für mich unter den Weihnachtsbaum gelegt. Ich bin immer noch überrascht, auch über mich selbst, wie sehr sie mit dieser – an und für sich unwahrscheinlichen – Wahl einen Nerv getroffen hat. Gleich mehrere Nerven, um genau zu sein:

Erschüttert hat mich die Erkenntnis, wie erschreckend präzise die damaligen Verhältnisse – 1940, etwa? – ohne weiteres auch unsere heutigen Tage beschreiben könnten, und wie sehr jene traurigen Zeiten den unseren ähneln. Allein das Titelgedicht – der Titel! – spricht Bände, und macht das ratlose Herz schwer:

gehat hob ikh a heym/a varem shtikl roym,/ a bisl virtshaft, vi bay ore/me layt,/ tsunoyfgebundn fest di vortslen tsu a boym/ hob ikh zikh mit mayn bisl oremkeyt.// Gehat hob ikh a heym, a shtibl un a kikh -/ un shtil gelebt zikh azoy yorn lan,/ gehat vil gute fraynd, khaveyrim arum zikh,/ a shtibl ful mit lider un gezang.// gekumen zaynen zey mit sine, has un toyt,/ mayn orem shtikl heym wos ikh farmog,/ vos ikh mit shverer mit hob yornlang geboygt,/ farnikhtet hobn zey dos in eyn tog. (*)

(Ja, wir sollten wachsam sein, und mutig, und uns Politiker*innen mit Rückgrat und (Zivil-)Courage wählen und bestimmen.)

Überaus spannend hingegen fand ich, jetzt mal ganz klein und engmaschig aus meiner Südtiroler*innen-Perspektive heraus betrachtet, die Bezeichnung „Kleine Völker Europas“ für Europas Minderheiten. Ich bin dieser Wortschöpfung im Vorwort des Herausgebers zum ersten Mal begegnet, was beachtlich ist, in Anbetracht der großen Häufigkeit, mit der wir – Minderheit! die aus diesem Status sowohl Lebenselixier als auch Existenzberechtigung zu schöpfen scheint – mit dieser Bezeichnung zu tun haben, mehr noch aber angesichts der Relevanz, die wir ihr zuordnen. Es gibt übrigens auch noch die „Wenigerheit“, die ich genauso wenig kannte wie ihre größere, unabhängigere Schwester „Kleines Volk Europas“; die „Wenigerheit“ ist zwar in meinen Augen auch schon um einiges positiver und freundlicher als die „Minderheit“ („minder“ heißt ja übrigens hierzulande nichts weniger als „von schlechter Qualität“, was uns zu denken geben sollte), aber bei weitem nicht so schön wie „Kleines Volk Europas“.

Denn ein „Kleines Volk“ ist – im Gegensatz zur Minderheit, aber auch zur Wenigerheit – ebenso souverän wie autonom, zieht seine Existenzberechtigung aus sich selbst und seiner Eigenständigkeit, und nicht aus der Abhängigkeit von etwas Größerem.

Denn ich muss sagen, ja, das ist es, was ich, Südtirolerin, eigentlich fühle: Ich bin Angehörige, bin Tochter eines „Kleinen Volkes Europas“, und nicht einer Minderheit, auch nicht einer österreichischen Minderheit.

Was soll ich sagen? Muss ich lügen, um Südtirolerin sein zu dürfen? Ich fühle mich nun mal kein bisschen angesprochen, und will auch nicht mitgemeint sein, wenn der Landeshauptmann aller Südtiroler*innen – und also auch mein Landeshauptmann – in der großen und kleinen Öffentlichkeit behauptet, er, der Landeshauptmann und also alle im Lande mit ihm, sei Angehöriger einer österreichischen Minderheit. Ich bin das nicht, und will es auch nicht sein. Ich kann, auch unter Aufbringung noch so großen Willens oder Bemühungen, keine stärkere Verbindung hin empfinden, nach diesen nördlichen Nachbarn, als zu jeder anderen deutschsprachigen Kulturgruppe im mitteleuropäischen Raum auch. Ich hege übrigens den ganz persönlichen, aber auch völlig unbegründeten Verdacht, dass dieses Zugehörigkeitsgefühl sehr viel weniger von sprachlicher Gleich-Art, und sehr viel mehr von ähnlichen Lebensbedingungen abhängig ist.

Und ich denke, übrigens, dass es einer größeren Anzahl weiterer Südtiroler*innen ähnlich gehen dürfte wie mir, und dass sogar sehr viele sich noch weit weniger als „Angehörige einer österreichischen Minderheit“ fühlen dürften, als ich das tue, sie aber doch alle – wie ich! – und dessen ungeachtet mit Leib und Seele und Herz und Verstand und bis hinein in ihre tiefsten Wurzeln Südtiroler*innen sind, welcher nichtdeutschsüdtiroler Muttersprachengruppe sie auch angehören mögen.

Und also ja, noch einmal, ich meine, wir hier in Südtirol sind doch schon längst ein „Kleines Volk“, ein eigenständiges, eins ohnegleichen, eins mit drei und mehr Seelen in seiner Brust, deren eine schon längst an einer oder beiden der anderen angedockt und sich mit ihr verbunden hat, deren jede zwar ihren ureigenen Rhythmus atmet – die Melodie aber, die einzigartige, erst aus dem und im Miteinander entsteht.

Es wäre also doch schön, nicht wahr, wenn wir als „Kleines Volk Europas“ anerkannt werden könnten, und nicht unter „österreichische Minderheit“ firmieren müssten, die wir doch schon längst nicht mehr sind, und manche nie gewesen waren, und alle sowieso nicht.

(*) ich hatte ein zuhaus‘, ein warmes stückchen raum,/ ein bisschen hausrat wie bei armen leuten./ verbunden, wie ein baum mit seinen wurzeln ist,/ hab‘ ich mich fest mit meinem bisschen armut.// ich hatte ein zuhaus‘, ein stübchen, ein küch‘ -/ und lebte so in stille, jahrelang…/ und freunde und genossen hatte ich um mich,/ ein stübchen voller lieder und gesang.// da kamen sie mit hass und feindschaft und tod./ mein armes bisschen heim, das ich besitze/ und mir mit schwerer müh‘ in vielen jahren schuf, sie haben’s mir in einem tag vernichtet.//

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