Die Sage, die ich hier wiedergebe, habe ich zufällig gefunden, und mich sehr darüber gefreut, nicht nur, weil darin mein Dorf, und sein im Volksmund „Kofl“ genannter Kalvarienberg vorkommen, sondern auch, weil die mir völlig neue Geschichte so glaubwürdig erzählt, dass die schönsten Bozener (!) Mädchen aus Kastelruth kommen… ein bisschen höher hat mein Kastelruther Herz angesichts dieser Neuigkeiten schon geschlagen! Die Erzählung stammt übrigens aus dem Buch „Märchen aus den Dolomiten“ (Diederichs, herausgegeben von Ulrike Kindl). Notabene: Passagen, die ich aus Frauensicht besonders interessant finde, habe ich kursiv markiert (und zum Schluss ganz persönlich kommentiert).

Wenn also der Storch einmal recht gut aufgelegt ist und ein recht schönes Mädel nach Bozen bringen will – kein Alltagsmädel, sondern ein recht schönes, eines mit den dunkeln Augen, die doch nicht schwarz sind, von denen man überhaupt nie herausbringt, welche Farbe sie haben, und mit dem dunkelblonden Haar, nicht blond und nicht schwarz, sondern eben boznerisch dunkelblond – dann fliegt er nicht zu den Talfertümpeln neben der Grieser Wassermauer und nicht hinaus nach Kampill, wo der Eisack oft träg und langsam in einem Seitenarme dahinlungert, nein, dann fliegt er hinüber zum Kalvarienberg.
Dort oben steht hart neben der steinernen Treppe, die zum Kirchlein (es dürfte sich um den sog. „Kaiserjubiläumsbrunnen“ handeln, A. d. V.) emporführt, neben dem Weg eine kleine Kapelle. Und in der Kapelle befindet sich ein Brunnen mit zwei Wasserbecken, und aus dem linken Becken – rechts schwimmen die Buben – holt dann der Storch seit alters her die schönen Mädeln und bringt sie hinunter in die Stadt.
Und außer der Mutter und dem Vater weiß es noch niemand, wie schön das Mädel ist und dass sie der Storch vom Kalvarienberg heruntergeholt hat. Aber lass dir nur Zeit, da vergehen keine tausend Wochen, und dann weiß es auf einmal die ganze Stadt, da sieht es dann jeder, der Augen hat zu sehen. Und es hat schon mancher ungläubig den Kopf geschüttelt und nicht begreifen können, wie ein Menschenkind so schön sein kann. Und nur diesen ahnungsvollen Zweiflern will ich meine Geschichte erzählen, die anderen verstehen sie doch nicht.
Es ist schon lange, lange her. Damals, als der Rosengarten noch ein Garten voll blühender Rosen war und das Königlein Laurin dort oben die Krone trug, da blühten auf dem Schlern drüben Rosmarin, Gilgen und Nelken. Der kleine König hat oft voller Neid und Grimm von den Zinnen seiner Rosenburg hinübergesehen auf die Pracht dieser Blumen (1), und mancher tollpatschete Riese, manch raunziger Zwerg und nicht zuletzt die Buben von Seis und Völs versuchten es, mit den Saligen Fräulein anzubandeln, die im Schlerngarten die Blumen zu pflegen hatten. Und die Riesen und Zwerge, die Seiser und Völser haben ganz ähnlich geseufzt und ähnlich gejammert, wie heutzutage noch dann und wann die Bozner Buben jammern.
Als sie König Laurin die Rosen zertreten haben und ihn gebunden hinunter führten ins Tag, da hat eine Salige, die gerade nach Tiers hinabgestiegen war mit einem Nelkenstöckl für die alte, kranke Viglin, über das arme Königlein gelacht (2) . Da ist Laurin außer sich gekommen vor Zorn und hat den Schlerngarten verflucht und die schönen Gärtnerinnen in Hexen verwandelt. (3) Damals ist der Schlern zu dem wilden Berg geworden, der er noch heute ist, und damals sind die blauen Blumen entstanden, die nach der Blüte die grauen Zottelhaare (4) ansetzen – die Schlernhexen.

Und so hätte es bleiben müssen bis an das Ende der Welt. Denn welcher Vater (5) hätte den Zauber brechen sollen? Hat doch keiner gewusst, dass die blauen Blumen verwunschene Salige sind. So hat sich auch kein Vater um die Schlernhexen gekümmert, höchstens dass einer, der auf den Schlern gekommen ist, um die Messe zu lesen in der Kassiankapelle, ein paar solcher Blumen mit seinen Bundsohlen zertreten hat. Doch davon sind sie auch nicht entzaubert worden.
Da hat sich denn der mächtige Schlernwind ins Zeug gelegt. Das ist ein großmächtiger, bärtiger Riese, nicht eben recht freundlich, aber er hat ein gutes Herz. Der hat im Herbst einmal zu schnaufen und zu blasen angefangen, dass den armen Blumen oben am Schlern ganz angst und bange wurde. Doch je mehr sie gezittert haben vor Schrecken und Bangnis, desto mehr hat der Schlernwind geblasen und gestürmt.
Die Schlernhexen haben sich kaum mehr am Boden halten können, so wild hat er getan, und hat der einen die Haare ausgerissen, der andern den ganzen Kopf davon – husch und wu-ih, wu-ih – hoch hinaus in die Luft bis zu den Wolken und dann wieder tief hinab bis ins Tal. Als der Schlernwind mit den Hexenhaaren lang genug gespielt hatte, hat er er sie grob und leichtsinnig neben der Heiliggrabkirche am Kalvarienberg zu Boden geworfen. Im nächsten Frühjahr hat es seltsame, neue Blumen gegeben oben am Kalvarienberg.
Im Herbst ist dann die Stampf-Nandl immer hinauf, um das Unkraut auszustechen rings um die Heiliggrabkirche herum innerhalb des steineren Geländers, und da hat die Nandl manche Schlernhex aus dem Boden gezupft und in ihren Korb geworfen, und abends hat sie den Korb in den Brunnen geleert drinnen in der Kapelle. Sie hat sich wohl oft gewundert, wohin der ganze Haufen Unkraut vom Vortag gekommen sei, wenn sie am nächsten Abend wieder einen Korb voll in den Brunnen geschüttet hat. Doch das Unkraut war weg, das war für sie die Hauptsach, und weiter hat sie sich keine Gedanken gemacht, die Nandl.
Wisst ihr aber, was mit den Schlernhexen in der Kapelle geschehen ist? Die sind allesamt wieder in ganz kleine, winzig kleine Salige verwandelt worden. An dem Heiligen Ort hat sich der Fluch des Königleins nicht halten können.
Und wenn der Storch einmal recht gut gelaunt ist und ein recht schönes Mädel in die Stadt bringen will, dann fliegt er nicht zu den Talfertümpeln neben der Wassermauer und nicht hinaus nach Kampill, nein, dann fliegt er hinauf auf den Kalvarienberg und holt uns eine von den Saligen, die früher einmal, vor langen, langen Jahren, am Schlern oben die Blumen gepflegt haben und die später dann – das darf man nie vergessen – in Schlernhexen verzaubert waren.
(1) Tsts. Ein paar Frauen, die es wagen, mit ihrem (Kräuter-)Garten des Rosengarten-Königs Laurin Neid zu wecken.
(2) Und dann werden sie auch noch „aufsässig“, frech und wagen es, sich über den Herrn König lustig zu machen. Sowas aber auch (wenn ich es auch, ehrlich gesagt, wenig elegant finde, über einen gebundenen Menschen, der gerade abgeführt wird, zu lachen. Aber die Salige wird schon ihren Grund gehabt haben).
(3) Die Strafe folgt dann auch sogleich, denn: Mag schon sein, dass die Saligen die erfolgreicheren Gärtnerinnen sind – die mächtigeren Zauber aber beherrscht er, das Männlein, derweil sie, die schönen und kundigen Frauen, „nur“ heilen, und helfen. Das haben sie dann auch davon: Müssen als zottelige, hässliche und unscheinbare Wesen ein tristes Schattendasein führen, und wenn’s ganz dumm läuft, werden sie von genagelten Männerschuhen auf heiliger Mission zertreten.
(4) Warum eigentlich „Hexen“ graue Zottelhaare haben müssen, hat sich mir noch nie erschlossen. Diese Überlieferung ist aber jedenfalls eine gute Basis für die äußerst einträgliche Haar-Färbe-Industrie. Zum Glück ändert sich das gerade – immer mehr Frauen begegnen mir, die ihre weißen oder grauen „Zottelhaare“ sehr selbstbewusst tragen. Wäre ja auch noch schöner.
(5) Allein der Vater, wer sonst, könnte der Tochter zu Hilfe eilen. Aber da die Saligen keinen Vater haben, kann ihnen auch keiner zu Hilfe eilen – Tochter ohne Vater ist für das Leben verloren.
(6) Mit der Folge, dass alte bärtige Riesen mit den schönen Mädchen tun, was sie wollen, und wie sie wollen (SO traurig)
Und die Moral von der Geschicht‘? Ihr großes Ende ist nicht geschrieben.