„Es ist eine in der Wissenschaft bekannte Tatsache, dass Volkskörper imstande sind, die Überzeugungen, Gedanken und sogar körperlichen Reaktionen ihrer Mitglieder zu manipulieren. Du hörst eine bestimmte Geschichte immer wieder, und ehe du dich’s versiehst, hast du die ganze Handlung internalisiert. Von dem Moment an ist es nicht mehr die Geschichte von jemand anderem. Es ist nicht einmal mehr eine Geschichte, sondern Realität, deine Realität.“
So lässt Elif Shafak in ihrem Roman „Der Bastard von Istanbul“ ihren Nichtnationalistischen Drehbuchautor Ultranationalistischer Filme erklären, was nicht erklärbar ist, für viele nicht erklärt werden soll, wieder anderen erklärt werden muss. Bei Shafak geht es um die Armenier, und ihre Geschichte, und um die Türken, und dieselbe Geschichte, aber von der anderen Warte aus.
Mir hingegen öffnete sich hinter diesen Worten eine völlig neue Tür zu einem – endlich! – Verständnis der „Heimat“, und was damit zusammen hängt, für manche von uns. So unwahrscheinlich es auch klingen mag: Ich habe (ausgerechnet!) in dieser Geschichte über eine türkisch-armenische Familie eine Antwort gefunden, oder zumindest die Vermutung, oder Ahnung, einer Antwort, für einen Südtiroler Zustand, der mich schon seit längerem beschäftigt, und mir Rätsel aufgibt, nämlich die Frage, woher es kommt, und wie es möglich ist, dass selbst heute noch, nach so vielen Jahren bzw. bald einem ganzen Jahrhundert, viele und darunter sehr viele sehr junge Menschen an einer Vergangenheit leiden, die sie allenfalls aus Büchern und vom Hörensagen kennen, und die unter dem Namen „Unrechtsgrenze“ am Brenner zusammen gefasst werden kann (wobei, es sei mir gestattet, bei dieser Gelegenheit eine andere Frage los zu werden, weil sich’s grad ergibt: Welche Grenze ist, eigentlich, KEINE Unrechts-Grenze?).
Denn ja, er macht mich immer wieder ratlos, jener Unmut, der – gar nicht selten – in Hass ausartet, und jedenfalls der absolute Unwille ist, sich mit einer Situation, die seit bald 100 Jahren besteht, konstruktiv auseinander zu setzen, sich mir ihr zu arrangieren, ihr vielleicht gar das Positive – und davon gibt es sehr vieles – abzugewinnen. Ich persönlich bin sowieso der Meinung, dass das Positive bei weitem überwiegt.
Ich meine ja übrigens, dass denen, die so hart gekämpft haben für ein möglichst freies Südtirol in diesem Staat Italien, wie Eva Klotz ihn zu nennen pflegt (ganz so, als sei die Tatsache, dass Italien ein Staat ist, besonderer Erwähnung wert… noch so ein Rätsel…), dass also diesen Vorkämpfern und Vordenkern unter den Ahnherren unseres Landes Unrecht getan wird, und ihre Leistungen für diesen schönen, reichen und – nicht zuletzt Dank der erwähnten „Unrechtsgrenze“ – so einzigartig vielseitigen Flecken Erde geschmälert werden, wenn das umfassend privilegierte Leben, das wir hier führen, gewissermaßen geschmäht und abgelehnt wird, im Namen einer Geschichte, einer Vergangenheit, die keineR der Lebenden persönlich kennt, auch die Eltern nicht, und in sehr vielen Fällen nicht einmal die Großeltern. Sehr oft ist diese Geschichte also schon alleweil die Geschichte der Urgroßeltern – und hört trotzdem nicht auf, in den Ur-Enkeln weiter zu leben, und in deren Köpfen eine überaus destruktive und unheilvolle Wirkung zu entfalten.
Eben. Die Frage: Wie kann das sein? Hier also noch einmal der Versuch einer Antwort, nach Elif Shafak. Eine bessere, eine Antwort in einheimischer Mundart, sozusagen, habe ich nämlich bisher nicht gefunden:
„Es ist eine in der Wissenschaft bekannte Tatsache, dass Volkskörper imstande sind, die Überzeugungen, Gedanken und sogar körperlichen Reaktionen ihrer Mitglieder zu manipulieren. Du hörst eine bestimmte Geschichte immer wieder, und ehe du dich’s versiehtst, hast du die ganze Handlung internalisiert. Von dem Moment an ist es nicht mehr die Geschichte von jemand anderem. Es ist nicht einmal mehr eine Geschichte, sondern Realität, deine Realität.“
Ich weiß nicht, ob, was Shafak ihre Figuren hier sagen lässt, aus wissenschaftlicher Sicht hält, oder nicht. Ich weiß aber auch nicht, ob das wichtig ist. Denn jedenfalls scheint mir diese ihre türkische Antwort – auch – auf meine Südtiroler Frage durchaus schlüssig, und nachvollziehbar. Da muss, so muss es sein, in einer Familie immer wieder dieselbe Geschichte erzählt worden sein, eine Geschichte wohl, die viel zu schwer lastet/e, auf dieser Familie, so schwer, und so lange, bis diese Geschichte der Urahnen zur Geschichte der Kinder, und Kindeskinder, und Kindeskindeskinder werden konnte, und wohl auch zur Geschichte der eigenen Kinder werden wird, und immer weiter so, bis irgendwann, irgendjemand, hoffentlich, diesen schaurigen Kreis durchbrechen wird.
Ob auch dafür, um also diesen Bruch herzustellen, bei Elif Shafak das „how to“ gefunden werden könnte, darüber möchte ich hier nicht groß spekulieren. Möglich wär’s aber schon, meine ich, zum Beispiel in einem Satz wie diesem hier…
„(…) ich begann, mich für die Momente des Schweigens in der offiziellen Geschichtsschreibung, die Dinge, über die wir nicht sprachen, zu interessieren.
… oder auch diesem hier, warum nicht:
„(…) musst du verstehen, dass unsere Geschichte trotz des Schmerzes, den sie in sich birgt, das ist, was uns lebendig und miteinander verbunden bleiben lässt.“
Auch hier möchte ich gern noch ein wenig verweilen, und auf diesen „Schmerz“ hinweisen, der – offenbar – auch die Fähigkeit hat, einem Kitt gleich, eine Gesellschaft zusammen zu halten. Im Schmerz vereint, gewissermaßen – und es wäre also höchst gefährlich, diesen Schmerz aufzulösen, weil sich mit ihm auch die Gesellschaft auflösen könnte.
Manchmal muss es eben einfach der Blick über den Gartenzaun sein, in den ganz und gar fremden Garten hinein.