(Den nachfolgenden Text hatte ich am 22.8.2015 bei „salto.bz“ eingestellt. Ich denke, er kann hier auch stehen, und eventuell gelesen werden. PS. Ich sehe gerade: Das System hat die Kommentare bei „salto.bz“ mitgenommen. Ich lass das so stehen.).
In diesen letzten Tagen begegnete ich Südtirol auffallend oft in den nördlichen, großen Medien. Ein größerer FAZ-Text beschrieb die Stau-„Politik“ am Brenner; die „Süddeutsche Zeitung“ spielte ein breit angelegtes Interview mit Reinhold Messner, und bei „Geo Saison“ ist es mittlerweile schon gute Tradition, dass mindestens einmal jährlich das Titelbild mit entsprechendem Text aus Südtirol kommt. Angesichts so starker Präsenz in maßgeblichen Medien könnte man beinahe Gefahr laufen, stolz zu sein, auf das kleine Land, das sich auch Heimat nennt.
Aber dann kam gestern Abend ein vierter Text meiner Wege. Er beschreibt auf vier FAZ-Online-Seiten u. a. die Südtiroler Rolle in der Flüchtlings-Krise, die Europa schon viel zu lange in Atem hält, nicht, weil sie zu groß wäre für Europa, wie manche uns gern glauben machen möchten, des persönlich-parteilichen Zugewinns wegen, sondern weil ganz offensichtlich Europa mitsamt den meisten seiner Politiker_innen viel kleiner ist, als man gemeinhin dachte. Es bleibt, nach Lektüre dieses Artikels, nur wenig oder eigentlich gar nichts übrig, zum Stolz-drauf-sein. Im Gegenteil.
Bozen, schreibt der Autor, sei eine „schöne, ziemlich satte Stadt“, die „mit der ganzen Angelegenheit (der Flüchtlinge, A. d. V.) nichts zu tun haben will“. Er schreibt weiter, dass in Südtirol mit seinen ca. 500.000 Einwohnern gerade mal 700 Menschen Asyl beantragt haben, und stellt gleich danach diese Größenverhältnisse in einen viel sagenden Rahmen: In Bayern, schreibt Julian Staib, seien im laufenden Jahr – es ist August! – schon an die 100.000 Menschen angekommen. Schon klar: Bayern hat ca. 12,5 Mio. Einwohner, Südtirol „nur“ 500.000 – aber das wären, nach Südtiroler Maßstäben, immer noch erst ca. 17.000 Flüchtlinge, die die nördlichen „Schwager“ (eine nette Formulierung, wie ich finde; sie ist, habe ich gestern gelesen, in Slowenien üblich, um die besonders freundschaftlichen Beziehungen zu Österreich auszudrücken) bei sich zuhause aufnehmen müssten. Und nicht 100.000.
Damit könnte man ja nun die Sache gut und gerne auf sich beruhen lassen, und allenfalls anmerken, dass halt alles zwei Seiten hat; in diesem Falle „bewahrt“ die Zugehörigkeit zu Italien dieses Südtirol, das so gar nicht dazu gehören will, zu Italien also, vor einem weitaus größeren Flüchtlingsansturm (es scheint ja dem kleinen schon kaum gewachsen…). Ja, sie erlaubt *uns* sogar, so zu tun, als ginge uns das alles nichts an, und, mehr noch, zu behaupten, dass diese Menschen „ja eigentlich gar keine Flüchtlinge sind, sondern Menschen auf der Durchreise“. Aber hallo.
Denn ja, tatsächlich, so sprach sie, die „Direktorin des Amtes für Senioren und Sozialsprengel der Südtiroler Landesverwaltung und damit für Flüchtlinge in der Region zuständig“, zu dem FAZ-Journalisten. Wobei, nebenbei bemerkt, nicht wirklich klar ist, was das „Amt für Senioren“ mit den Flüchtlingen, die doch fast ausschließlich junge Menschen sind, zu tun haben soll. Rätselhaft ist auch, wen die Frau Amtsdirektorin meinte, mit ihrem „wir“: Die Landesverwaltung? Die Südtiroler Allgemeinheit? Jedenfalls lässt ein wenig schaudern, was die Frau Direktorin vermittels einer der angesehensten deutschsprachigen Zeitungen über unser Land verlauten lässt, und man hält sich lieber nicht zu lange über der Frage auf, was wohl die Leserschaft der Zeitung, hinter der immer ein kluger Kopf steckt, sich denken mag, von Südtirol, wenn sie liest,
die Frage, ob Südtirol genügend leiste, sei doch sehr relativ. „Aus unserer Sicht leisten wir genug.“ In den Dörfern gebe es eine „niedrige Ausländerpräsenz“, Ausländer seien für die Menschen „ungewohnt“. In Bozen, das ist wohl kaum übertrieben zu sagen, ist man froh, dass fast alle weiterfahren.
Müssen wir uns schämen? Nein, müssen wir nicht. Wir sind halt Hinterwäldler, und sollten dazu stehen. Uns geht es gut, und was da draußen, hinter den Grenzen unseres Landes vor sich geht, muss uns nicht weiter kümmern. Da passt es gut ins Bild, dass der Journalist, der für die FAZ in der Flüchtlingssache nach Bozen gekommen ist, „nur“ eine Amtsdirektorin vor sein Mikro bekam. Die zuständige Landesrätin weilte wohl auf Urlaub, derweil der Landeshauptmann sich auch lieber im Rampenlicht der Expo-und-Merkel-Presse sonnt bzw. sich mit seinen „Boys“ unter einer Pergola den freundlichen Fragen der wohlgesinnten heimischen Presse hingibt.
Flüchtlinge? Sind im offiziellen Südtirol kein Thema, und schon gar keins, mit dem sich die hohe, die höhere und die höchste Politik groß die Finger schmutzig macht beschäftigt. Und nein, es tut überhaupt nichts zur Sache, dass die Welt da draußen sich einig ist, dass „Europa eine fundamentale Veränderung erlebt“. Europa? Muss uns kümmern, was dort vor sich geht? Müssen wir uns fragen, ob wir eine Rolle spielen, in diesem Europa, und wenn ja, welche? Oder ob dieses Europa für uns eine Rolle spielt, und wenn ja, welche? Es sieht nicht danach aus: In Südtirol weht ein laues Lüftchen, kein rauer Wind. Hier stehen keine Flüchtlinge auf der Tagesordnung, sondern siebtklassige Provinz-Flughäfen und doppelte Staatsbürgerschaften; es geht um die Fehler der Alten und das Image der Jungen und es schaut leider ganz danach aus, als sei die viel gepriesene und viel versprochene Erneuerung im Grunde nicht viel mehr als ein oberflächliches Re-Styling. In Wahrheit ist alles wie immer. Aussitzen. Ausschweigen. Hoffen, dass es von allein vorüber geht.
Das „Thema, das uns mehr beschäftigen wird als Griechenland“ (O-Ton Merkel) ist bei uns keins, jedenfalls keins der Polit-Prominenz, der kleinen nicht, und der großen auch nicht. Während der bayrische Tourismusort Chieming mitten in der Hauptsaison nur wenige Tage benötigt, um die Aufnahme mehrerer Hunderte Flüchtlinge zu meistern, unter der Führung von Bürgermeistern, die von „unserer Aufgabe“ sprechen und davon, dass „die Flüchtlinge ab heute zum Ortsbild gehören“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-in-chieming-das-anti-freital-am-chiemsee-1.2596008);
während andere Bürgermeister ihren Bürgern „Mut machen“ und klar Stellung beziehen,
während weiterhin „die Schwager“ in Österreich darüber diskutieren, das traditionelle sommerliche Kanzlerfest abzusagen, weil das „angesichts der Misere um die Flüchtlingsunterbringung“ angemessen wäre, und es überhaupt „keinen Grund zum Feiern“ gebe (Traiskirchens BM Babler),
und Pfarrer und Kardinäle ihre Glocken läuten gegen Fremdenhass und hetzerische Reden,
derweil hüllt sich die heimische Polit- und überhaupt Prominenz in nobles Schweigen und übt sich in eleganter Zurückhaltung. Da ist es wahrlich kein Wunder, dass die Stimmen der „anderen“, der PödersLeitnersMairs und ihrer Follower, umso lauter tönen (können) und ungebremst auf verstörend fruchtbaren Boden fallen – treffen sie doch auf keinen wie auch immer gearteten Widerstand und vielmehr auf nichts als ein immenses Vakuum, in dem sie ungestört wachsen, gedeihen und sich vermehren können.
Seit gestern zirkuliert denn auch ein übles Video (*) im Netz, hinter dem eine anonyme (!) „Bürgerinitiative Unser Prissian“ steht. Schwer vorstellbar, dass alle Bürger Prissians sich hinter diese abscheuliche und verlogene „Initiative“ stellen, deren erklärtes Ziel es ist, das „Flüchtlingsheim zu schließen“ und „Vorbild für alle Bürger des Landes sein, die sich nach einer sicheren, selbstbestimmten und freien Heimat sehnen.“
Solche „Vorbilder“ sind nun grad das Allerletzte, was die Welt braucht, die große nicht, und unsere kleine noch viel weniger. Denn sie machen nichts besser, aber viel böses Blut, das letztlich alles vergiftet, am meisten aber just die „Heimat“, die hier so scheinheilig beschworen wird. Bleibt zu hoffen, dass endlich die, deren Aufgabe das ist, ihre Stimmen wiederfinden, um solch hetzerischem und aufrührerischem Tun und denen, die dahinter stehen und darauf warten, ihren Profit einheimsen zu können, laut und vernehmlich Paroli zu bieten.
(*) Nein, ich werde diesen hübsch verkleideten Dreck nicht verlinken.