Als ich mir die Via Francigena als unsere Route rausguckte, verschwendete ich nicht den geringsten Gedanken daran, dass dieser Weg ja – eigentlich – ein Pilgerweg ist. Er passte, wie ich ja im Übrigen schon mal gesagt habe, perfekt in unser Bedürfnis-Schema, und er bot sowohl Struktur – in Sinne klar definierter Tagesetappen -, als auch Strukturen, im Sinne von Ess- und Schlafplätzen. Was soll ich sagen? Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass Menschen sich tatsächlich, heutzutage, aus religiösen Gründen auf diesen Weg machen könnten. Ich sollte eines Besseren belehrt werden, und ein paar Mal, ich gestehe es, habe ich mich ob dieser meiner Blauäugigkeit ein bisschen geschämt – aber davon ein ander Mal.

Tatsächlich waren acht der zehn Menschen, denen wir im Laufe unseres Wandermonats begegneten, in religiösen Belangen unterwegs, und zwar sehr, sehr ernsthaft. Allerdings: Bei mehr als der Hälfte dieser devoten Wanderer – ausnahmslos männlichen Geschlechts, übrigens – habe ich mir gedacht, dass sie wohl besser daran getan hätten, zu einem Psychotherapeuten statt pilgern zu gehen. Einer insbesondere, ein junger Mann aus Lyon, glaube ich (alles zu Fuß!), hat schweren Eindruck gemacht auf mich: Er schien unter einem ungeheuren Druck zu stehen, und konnte – wollte? – niemandem in die Augen sehen. Er ging allein, und sein erster Gang am Ende der Tagesetappe führte ihn stets in die Kirche, und dann zum Pfarrhaus, wo er sich verköstigen ließ (haben wir uns von anderen Pilgern, die in den gleichen Strukturen übernachteten wie er, erzählen lassen. Ja ja, da ergeben sich die interessantesten Geschichten). Würde mich wundern, wenn dieser junge Mann nicht direkt auf seinem Weg zum „Himmel“ gewesen wäre.

Andererseits, habe ich mir überlegt, übernimmt ja womöglich in vielen Fällen und für viele Menschen die Kirche die Rolle des Psychotherapeuten, und manchmal funktioniert das ja auch, wer weiß.

Wie gesagt, religiös waren wir kein bisschen motiviert, was mich schon ein bisschen beschäftigt hat, ab dem Zeitpunkt zumal, an dem ich unzweifelhaft anerkennen musste, dass die allgemeinen Erwartungen doch sehr in diese Richtung gingen. Ich hatte manchmal sogar das dumpfe Gefühl, dass ich – weil mir die „richtige“ Motivation ja gänzlich abging -, diesen Weg ja vielleicht gar nicht hätte gehen dürfen. Meine diesbezüglichen Bedenken ließen ein wenig nach, als ich hörte, dass allein auf dem Jakobsweg  mehr als 200.000 Menschen pro Jahr (zum Vergleich: Auf der Via Francigena wurden letztes Jahr nicht mehr als 500 gezählt…) ihren Weg gehen. Kaum vorstellbar, dass die Wanderung all dieser Menschen ernsthaft religiöse Gründe haben könnte. Noch ein bisschen ruhiger wurde ich, als wir die Toskana erreicht hatten, denn dort wurde eindeutig der kulturell-historisch-touristische Aspekt des Weges hervorgehoben und betont.

Endgültig zerstreut waren meine Zweifel aber, als ich, längst wieder zuhause, im aktuellen GEO WISSEN (Nr. 53, Was gibt dem Leben Sinn?) auf einen sehr schönen Text stieß, den ich unten als PDF einstelle (leider stellt GEO seine Artikel online nicht zur Verfügung, was ich sehr schade finde).

GEO Wissen (Pilgern)

Er gab mir meine Seelenruhe und meine Sicherheit wieder, denn der Text besagt neben anderen, schönen Dingen, die ich sofort unterschreiben würde, dass nur etwa ein Viertel der „Pilger“ aus religiösen Gründen unterwegs sind.

Alle anderen wollen nicht mehr und nicht weniger, als „einfach mal alles hinter sich lassen“. Ja.

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