Es wird hier bei uns sehr viel oder, um genauer zu sein, für meine Begriffe viel zu viel über Grenzen diskutiert. Hauptsächlich „diskutieren“ die, denen die (ehemalige) Brenner-Grenze immer noch ein Dorn im Auge oder eigentlich in der Seele ist und zwar ungeachtet der Tatsache, dass der Dorn längst vom Zahn der Zeit zernagt und die Wunde, die er in manchen Seelen gerissen haben mag, längst verheilt sein sollte. Besonders interessant finde ich übrigens die Tatsache, dass auffallend viele junge Menschen nicht damit klar zu kommen scheinen, dass Südtirol zu Italien gehört und das trotz der Tatsache, dass sie es nie anders erlebt haben (das „andere“, das nicht-italienische Südtirol kennen sie allenfalls aus Erzählungen ihrer Großeltern).
Das Ergebnis dieses Südtiroler Ur-Schmerzes ist, dass hierzulande immer noch über Sezession und Separation fantasiert wird. Zwar haben wohl die meisten dieser Separatisten mittlerweile verstanden, dass ihre Wünsche international vermutlich wenig Gehör und Verständnis und noch weniger Unterstützung finden werden; objektiv betrachtet besteht nämlich kein Grund für eine Abtrennung Südtirols von Italien, der eine solche rechtfertigen würde: Wir können uns sprachlich kulturell religiös und wirtschaftlich sehr frei entfalten und es gibt wohl nur sehr wenige andere Regionen in Europa, in denen es den Menschen so gut geht wie es den Menschen in Südtirol geht. So gesehen, ist es in meinen Augen eine fast schon unerhörte Anmaßung, zu fordern, dass Südtirol aus Italien herausgelöst und eigenständig werde, mit all den Problemen und Komplikationen, die so ein Prozess wohl unweigerlich nicht nur für die Nachbar-Staaten, sondern für ganz Europa bedeuten würde. Wie gesagt und zur Beachtung: Ein Anlass, der all das rechtfertigen könnte, ist nicht gegeben. Übrigens fällt mir gerade ein, dass es vielleicht kein Zufall ist, dass gerade jetzt, wo in vielen europäischen Ländern rechtsnationale Parteien entstehen und erstarken, auch alte und neue Separtionsbestrebungen mancher europäischer Regionen Aufwind zu bekommen scheinen.
Der Zweck heiligt NICHT die Mittel
Jedenfalls ist also hier bei uns – vielleicht als Reaktion auf die Erkenntnis, dass der „klassische“ Weg, eine Sezession Südtirols von Italien zu fordern, aus den genannten Gründen nur schwerlich bis gar nicht zum gewünschten Ziel führen wird – eine kleine „Bewegung“ entstanden, die das Separationsthema gewissermaßen auf eine neue Ebene gehoben hat. Das Ziel ist nach wie vor ein eigenständiges Südtirol, allerdings nun mit der Begründung und dem Ziel, dass in Folge und als Ergebnis sämtliche nationalen Grenzen sich auflösen und nur noch so genannte Verwaltungsgrenzen bestehen bleiben sollen. In knappen Worten: Das Ziel ist ein grenzenloses Europa, der Weg dorthin die Sezession Südtirols und anderer Grenzregionen wie z. B. Katalonien und Schottland. Mir persönlich will und will sich – trotz redlichster Bemühungen – nicht erschließen, wie das funktionieren soll: Warum ein Staat wie Deutschland oder Schweden sich veranlasst sehen sollte, seine nationalen Grenzen aufzulösen, bloß, weil hie und da in Europa sich die eine oder andere Region verselbständigt hat. Genauso wenig will sich mir erschließen – trotz redlichster Bemühungen – wie bloße Verwaltungsgrenzen installiert werden und funktionieren sollen, wenn rundherum die alten Staaten mit ihren alten Grenzen weiter bestehen. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass mir irgendwann vielleicht doch jemand erklären kann, wie das alles gehen soll.
Übrigens: Die „praktischen“ Probleme und Komplikationen, die eine Sezession Südtirols mit ihren drei großen Sprach- und Kulturgruppen unweigerlich nach sich zöge, verdienten ein eigenes Kapitel. Ich werde hier nicht darauf eingehen, weil allen, die die Sache vorbehaltlos betrachten, mehr als nur klar sein dürfte, dass eine Sezession Südtirols noch einmal sehr viel Leid heraufbeschwören würde. Als hätten wir das alles nicht schon gehabt, als müssten wir’s nicht besser wissen.
Nicht zuletzt muss meines Erachtens noch gesagt werden, dass unsere heutigen „Grenzen“ in Europa ja schon längst nicht mehr die sind, die sie einmal waren, und längst zu sehr großen Teilen so durchlässig sind, dass man sie im Alltag kaum noch wahrnimmt. Ich ganz privat finde also, dass unter den gegebenen Umständen der Gedanke, eine Region aus einem bestehenden Staatengebilde heraus zu lösen, um sie mit neuen Grenzen zu umgeben, nachgerade ein Anachronismus ist, etwas, das gar nicht mehr in die Zeit passt.
Über solche und andere Grenzen
Natürlich kann alles, selbst sehr Gutes, immer noch besser werden. Ein kluger Mensch hat mal gesagt, das Gute ist grenzenlos, nur das Schlechte hat nach unten ein Ende. Und so habe ich mich so gut wie überzeugen lassen – ganz sicher bin ich mir nicht, denn es gibt nichts, das nicht auch Nachteile hätte – dass es wohl vernünftig wäre, eine Vielzahl von Verwaltungshandlungen, die derzeit mehr oder minder weit von den Bürgern weg passieren, näher an diese letzteren heranzubringen. Das – also mehr Bürgernähe ist gleich mehr Bürgerfreundlichkeit ist gleich mehr Bürgerbeteiligung – macht durchaus Sinn, glaube ich. Aber: Die Neuordnung der Beziehungen der Bürger zu den ich sage jetzt mal „regulierenden Organen“ nach Art der Sezessionisten/Separatisten macht nicht wirklich viel Sinn und führt, ich kann’s anders einfach nicht sehen, eher früher als später in nichts als Sackgassen.
Denn auch Verwaltungsgrenzen, die Lieblingskinder der Sezessionisten, sind starre Grenzen und haben somit problematische Randbezirke. Und tatsächlich, wenn man nur lange genug hartnäckig genug nachfragt, kommen die Kröten gesprungen und wird nicht mehr geleugnet, dass nun mal auch „Verwaltungs“-Grenzen: Grenzen sind. Bei den führenden Köpfen der Südtiroler Separatisten klingt das dann so:
Auf den ersten Blick klingt das ganz ordentlich, bürgernah, kleinteilig, praktisch, mit kurzen Wegen und was sonst sich Menschen so wünschen, ganz besonders dann, wenn die Welt zunehmend größer und komplexer wird. Man muss schon zwei Mal oder noch öfter hinschauen, um zu erkennen, dass sich letztendlich und in Sachen „Grenzen“ gar nichts wirklich ändert, auch dann nicht, wenn den „Grenzen“ ein „Verwaltungs-“ vorangestellt wird. Das kann man hier sehr schön erkennen:
Denn es ist in meinen Augen absolut selbstverständlich und fraglos, dass starre Grenzen problematische Randbezirke haben, und die verschwinden keineswegs, nur, weil die Grenzen jetzt Verwaltungsgrenzen heißen. So weit, dass jeder Weiler (s)eine eigene Gemeinde werden kann, würde ich es übrigens lieber nicht kommen lassen; so etwas nähme kein Ende und würde über kurz oder lang in den einen oder anderen Nachbarschaftsstreit münden, und das ganze Spiel begänne von vorne. Wir kennen’s ja, auf mehreren Ebenen. Nein, so etwas führt nirgendwo hin, an keine guten Ort zumindest. Ich habe mir genügend solcher „Dorfdynamiken“ gesehen und würde zu wetten wagen, dass es nicht lange dauern würde, bis jede Feuerwehrhalle ihr eigenes Dorf hat, und jede Häusergruppe, die nicht ihre eigene Feuerwehrhalle hat, ein eigenes Dorf werden will. Nein, ich glaube unbedingt, die Menschen wollen und brauchen Grenzen, allerdings möglichst solche, die nicht einengen und den freien Fluss der Menschen, der Energien und Ideen nicht beschränken.
Grenzziehung
Ein weiteres Fragezeichen, das mir die Sezessionisten nicht schlüssig klären konnten oder wollten war, nach welchen Kriterien sie die neuen Verwaltungsgrenzen ziehen würden. Ich muss deshalb ein bisschen spekulieren, und denke mir, dass Grenzen im allgemeinen nach
- territorialen
- kulturellen
- sprachlichen
- natürlichen
- historischen
- u. dgl. mehr
Kriterien gezogen werden könnten. Alle können mehr oder wenig gültig sein, alle können mehr oder weniger Vor- und/oder Nachteile haben, aber alle haben eins gemeinsam: Sie sind starr, und sie schließen unweigerlich die Einen oder die Anderen aus. Daran führt kein Weg und kein Süßholzraspeln und auch kein Augenauswischen vorbei. Und auch daran nicht, dass wir nach einer Abspaltung und einer Neugründung eines neuen Staates Südtirol exakt dieselben Probleme hätten, die wir heute hätten, mit dem einzigen Unterschied, dass sie unter einer anderen Flagge passierten.
Fließende Grenzen
An diesem Punkt bin ich angekommen, wo ich eigentlich hinwollte. Die lange Vorgeschichte da oben wäre nicht wirklich nötig gewesen, vielmehr habe wohl ich sie gebraucht, um ein wenig Ordnung zu schaffen in meinem Gedankenchaos. Wenn wir uns also einig sind, dass starre Grenzen unweigerlich Ausschlüsse bedingen, dass sie problematische Randbezirke haben, die eine doppelte oder gar mehrfache Zugehörigkeit erforderlich machten, was aber wohl technisch nicht ohne weiteres händelbar sein dürfte und jedenfalls weitere Probleme nach sich zöge, wenn ich also das alles und was weiter oben und bisher schon gesagt wurde, zugrunde lege, dann komme ich unweigerlich an das Ende, an dem „fließende Grenzen“ steht. Das heißt: Grenzen müssen, damit sie keine solche (mehr) sind, aber ihren ordnenden Zweck und ihre regulierende Aufgabe trotzdem erfüllen können, fließen. Und flexibel sein.
Wenn ich nun diesen Gedanken weiter denke, und ihn denke mit den klassischen Möglichkeiten der „selektiven“ Grenzziehung wie oben, bleibt der Karren schnell im Sand hängen. Was aber, frage ich mich, passiert, wenn ich die Grenzziehung nach Sachkriterien, nach streng sachlichen Parametern gestalte?
Interessensgruppen
Das würde bedeuten, dass alles, was einen Menschen ausmacht – also seine Sprache, seine Kultur, seine Identität, seine Geschichte – sich nicht mehr in eine Schablone = Grenze fügen muss, sondern dass sich die Schablone dem Menschen fügt. Nicht mehr die Menschen müssten sich ihren Bedürfnissen fügen, sondern die Bedürfnisse würden sich den Menschen fügen.
Ähnliches muss ähnliche Behandlung erfahren, Gleiches kann gleiche Behandlung erfahren – nach diesem Prinzip könnte Europa neu und grenzenlos geordnet werden und grenzenlos harmonisch und ohne Reibungsflächen funktionieren.
– Nachdenkpause –