Das ist ein Problem, hatte ich mir neulich gedacht, als ich von der (neuerlichen) Abstimmung über den Neubau einer Seilbahn von Kastelruth auf den Puflatsch gehört hatte. So eine Abstimmung in einem kleinen Dorf, in dem jeder jede kennt und irgendwie alles miteinander verwoben und aufeinander angewiesen ist, in so einem Dorf ist so eine Abstimmung ein Problem – jedenfalls in einer Sache, die von großer Tragweite ist für die Gemeinschaft und, wie das in solchen Fällen üblich ist, das Dorf entzweit.
Nicht immer, nicht überall muss das so sein – in einer aufgeklärten, modernen und offenen Gesellschaft sollten Abstimmungen, offene und geheime, und sogar offene Wahlen, kein Problem sein. Ich wäre sogar sehr dafür, auch für offene, also nicht geheime Wahlen. Denn es ist keine gute Welt, in der ein Mensch nicht offen sagen kann, wofür bzw. für wen sie und warum (ein-)steht, und damit rechnen kann, dass seine Meinung und ihre Entscheidung als solche akzeptiert, respektiert und, im bestmöglichen Falle, als die freie Meinung eines freien Menschen in einer freien Welt: honoriert wird.
In der realen Welt aber, in der unseren zumal, ist das leider keineswegs so; dort hat man entweder „die richtige“ Meinung – oder behält sie für sich, in allen anderen Fällen. Ich persönlich kenne Menschen, die sich z. B. in diesem strittigen Bahnthema nicht trauen, Stellung zu beziehen, weil sie im falschen Dorf leben und aus Angst vor geschäftlichen Konsequenzen. Opportunismus ist das zwar immer noch, schon klar, aber – wenn man sich sehr anstrengt -, kann man ihn vielleicht ein bisschen verstehen, solcherlei Opportunismus, auch wenn er natürlich wenig hilfreich ist im Sinne einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft.
Dass solcherlei Zweifel nicht gänzlich von der Hand zu weisen sind, wurde deutlich, als ich kürzlich im Facebook-Forum „Ja – Zur Anbindung Skigebiet Marinzen an die Seiser Alm“ über diesen Satz stolperte: „Heute ist der Tag der Entscheidung! Um 20.00 Uhr wird der Gemeinderat über die Zukunft von Kastelruth entscheiden. Seit mit dabei und überzeugt euch selbst davon ob wie die Volksvertreter unsere Interessen vertreten!“ Schon krass, oder?
Ein anderer User im selben Forum empfahl, (ich zitiere, den screenshot füge ich aus Platzgründen nicht ein), man möge doch die beiden Räte, die sich der Meinung enthalten hatten, stantepede vor die Tür setzen, oder zum Mindesten sollten sie ihr Amt abgeben, wenn sie schon keine Meinung haben. Was auch immer man von „Meinungslosen“ halten mag: Die Stimmenthaltung ist ein Instrument in demokratischen Wahlen, und hat als solches respektiert zu werden.
Nun gehe ich natürlich nicht davon aus, dass sich eine Person, die ein öffentliches Amt innehat, vor solchen mehr oder minder Drohungen dieser Art fürchtet (ein bisschen weiter unten im Süden ist das anders, und so GANZ sicher bin ich mir nicht, ob wir jenes Stadium der gesellschaftlichen und moralischen Entwicklung auch wirklich überwunden haben…) – der Zweifel aber, der bleibt:
Wie objektiv, wie rein sachbezogen und wie frei von „Emotionalität“ kann eine Abstimmung oder auch nur eine Diskussion sein, in einem Dorf, unter den gegebenen Umständen und den bekannten Voraussetzungen? Und welchem „Ergebnis“ kann ein Bürger, unter den gegebenen Umständen und den bekannten Voraussetzungen, eigentlich (ver-)trauen?
Schiller, nicht ganz so berühmt wie Goethe, aber immerhin und nichtsdestotrotz einer der ganz großen deutschen Dichter und klugen Männer, hatte einmal folgende Worte gesprochen:
„Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen; der Staat muss untergehn, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet“.
Nun gehe ich zwar nicht davon aus, dass Schiller dabei an „Systemisches Konsensieren“ gedacht hatte, und auch nicht, dass die Entwickler der Systemischen Konsensierung sich ihrerseits an Schiller orientierten, als sie an ihrem „konsensnahen Entscheidungsverfahren“ tüftelten – aber ich denke sehr wohl, dass – ja, da bin ich mir ziemlich sicher -, unter dem Strich die besseren Entscheidungen stünden, als bei der althergebrachten „Hü-oder-Hott“-Methode, die ja im Übrigen der Vielfalt, die uns moderne Menschen in unserer Entscheidungsfindung beeinträchtigt, sowieso schon längst nicht (mehr) gerecht wird.
Und hier nun, zwei Worte (nicht von mir!) in Sachen „Systemisches Konsensieren“ (in anderen Worten: Wir sollten nachdenken, und wir sollten reden):