Viel braucht es ja wahrhaftig nicht, dass sich Südtirol im Mittelpunkt der Welt wähnt, und sei es „nur“ der europäischen: Auf Schloss Prösels bei Völs, einem zugegebenermaßen äußerst attraktiven Standort, gaben sich an diesem Wochenende hohe bis höchste Persönlichkeiten der aktuellen Politik ein Stelldichein. Die VVIP-Liste reichte hinauf bis zum italienischen Ministerpräsidenten, Matteo Renzi, der aber gerade lange genug blieb, um den österreichischen Bundeskanzler Faymann über den grünen Klee zu loben und in ein paar Fotolinsen zu lächeln, bevor er wieder abbrauste, zu seinem nächsten Termin, mit dem Tunnel, dem BBT. Jedenfalls aber hat er, der Herr Renzi aus Florenz bzw. Rom, unser Land und seine Bewohner im Sturm erobert, das soll ihm mal einer nachmachen. Und für eines Augenblicks Blinken, so scheint es und wurde gejubelt, strahlte der Scheinwerfer der großen Geschichte hell auf das kleine Südtirol, für eine kurze Zeit war Südtirol ein heller Stern am Himmel Europas, dem Europa der Regionen zumal.

Und derweil also unser Landeshauptmann die Dinge gern à la grande macht und die Welt zu sich nach Hause lädt, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um ein paar Gedanken los zu werden, zu dieser Euregio-Sache, denn irgendwie will mir gar nicht so recht warm werden damit, im Gegensatz zu der ganz großen Mehrheit im Lande, was ja auch bedeuten könnte, dass ich womöglich das Eine oder Andere aber vielleicht auch beides falsch verstanden habe.

Fakt ist aber jedenfalls und unbestritten, dass die Schützen (ich mag sie, wie ich alles mag, was Geschichte hat und damit zu tun hat, aber ich mag’s gar nicht, wenn – darf ich das sagen?! – Trachtenvereine Politik machen) die Euregio herbeireden und herbeisehnen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Wie’s die Schützen haben, mit der Zugehörigkeit zu Italien und der Sehnsucht nach dem Vaterland, ist ja leidlich bekannt. In das gleiche Horn und aus ähnlichen Gründen bläst man bei Süd-Tiroler Freiheit, auch dort ist die Stimmung freundlich-wohlwollend, wenn die Rede auf die Euregio kommt, so wie auch bei den Südtiroler Freiheitlichen.

Das reicht schon, um mich zu beunruhigen. Denn ich fürchte, all diesen Menschen, die sich da so inbrünstig ins Zeug legen für diese Europaregion Tirol, geht es in Wahrheit gar nicht so sehr darum, die Politik, die große und die kleine, näher heranzubringen an die Menschen, und die Menschen zusammen zu bringen mit ihrer Politik, sondern ganz einfach darum, ihr eigentliches Ziel – die „Wieder“-Vereinigung des „alten Tirol“ – gewissermaßen durch das Hintertürl dzu erreichen. Alles andere ist nicht mehr und nicht weniger als ein erwünschter und willkommener Nebeneffekt, ein Alibi. Dieses „alte Tirol“ aber ist, wie ja der Name schon sagt, eine alte Sache, und ich kann einfach nicht erkennen, welchen Sinn es haben soll, im Jahre 2014 einen Zustand wieder herzustellen, der vor 100 Jahren ein abruptes Ende fand, ob das nun gut oder schlecht war, sei einmal dahingestellt.

Und nun sage man mir, wenn’s geht: Worauf gründet, bitteschön, diese Europaregion Tirol – wenn nicht nur oder fast nur auf ebendieser alten und längst vergangenen Geschichte? Was haben die Menschen, die in den drei Teilen dieser Europaregion leben, denn schon gemeinsam, außer – in Teilen – dieser alten Geschichte, ähnlichen Trachten und einer ähnlichen Sprache, einige von ihnen? Was hat außerdem dieses letzte Jahrhundert überdauert, an Alltag, an gemeinsamen Interessen, an gemeinsamen Wünschen an die Zukunft? Denn immer und jedenfalls stehen da: 100 Jahre, während derer die Geschichte nicht stehenblieb. Reicht dieses wenige und vielleicht noch das Eine oder Andere, um eine streng abgegrenzte und eingeschränkte „Europa“(!)-Region zu rechtfertigen? Was kann daraus wachsen und werden, einerseits – und warum sollte andererseits ein Wachsen und Werden nicht mit jeder anderen Alpenregion, in der ähnliche landschaftliche Bedingungen herrschen, sein können?

Warum, frage ich mich, müssen wir uns denn schon wieder einigeln, in dieser kleinen, kleinen Welt und uns zudecken mit dieser alten, alten Geschichte – wenn wir doch so viel mehr haben könnten?

Die Sprachsache, zum Beispiel: Welchen Nutzen zögen die Südtirolerinnen und ihre Sprachproblematiken aus der Euregio? Keinen – weil keine der beiden anderen Euregionen ähnliche Sprachsituationen kennt. Wäre es da nicht nützlicher, unser Land könnte sich in den Mehrsprachigkeitsbelangen mit, beispielweise, der Schweiz verbünden? Oder anderen europäischen Regionen, die mehrsprachig sind? Wer sagt, frage ich mich, und wo steht geschrieben, bitteschön, dass „klein“ sich auf räumliches „klein“ beschränken muss? Oder die Weinbauern: Wo steht geschrieben, dass – Hausnummer – die Südtiroler Weißweinbauern nicht sehr viel größeren Nutzen und Vorteil zögen aus einem Zusammenschluss und einem Verbund der venezischen, der slovakischen, der burgenländischen und der Rheinländer Weißweinproduzenten? Und die Rotweinproduzenten aus einem Zusammenschluss der toskanischen, sizilianischen, bulgarischen und rumänischen Produzenten?

Ich mein ja nur – wenn schon etwas Neues, dann doch bitte etwas RICHTIG Neues, und nicht die aufgewärmte Suppe von vorgestern, mit ein wenig frischer Petersilie?!

So könnten doch also genauso gut viele kleine europäische Themen-Regionen geschaffen werden, die den Menschen und ihren Bedürfnissen viel besser entsprechen und der Vielfalt eines menschlichen Daseins auch viel besser gerecht werden könnten, als das (nur sehr bedingt „neue“) territoriale Gebilde nach den alten Prinzipien (in unserem Falle nach der alten Geschichte) jemals könnten. Wobei ja eh territoriale Grenzziehung gar nicht anders kann als eben ein- und ausgrenzen. Und schon geht die Rechnung nicht mehr auf, denn die Entwicklung der Menschheit ist schon längst über territoriale Grenzen hinaus, war dort eigentlich nie drin, wenn wir’s ganz genau nehmen wollen.

Das wurde mir, glaube ich, zum ersten Mal einigermaßen klar, als ich – vor ziemlich vielen Jahren – in einem der grünen GEO-Hefte ein sehr schönes Foto sah, von einer alten Frau mit tiefen Runzeln im Gesicht, die von vielen Arbeitsstunden in der freien Natur erzählten, und mit einem Kopftuch, das sie unter dem Kinn verknotet hatte, wie unsere alten Frauen das manchmal noch machen, und das Ganze eingebettet in ein Alm-Umgebung, inklusive buckliger und kurzfloriger Wiesen, an deren Rand die klassische schwarz gebrannte Almhütte stand, und davor ein fließendes Wasser, das in einen ausgehöhlten Baumstamm ein- und wieder ausfloss.

Ich weiß noch, wie mein Blick und meine Seele an diesem Bild hängen blieben, ganz die stolze Südtirolerin, so viel Schönheit, habe ich mir gedacht, und du gehörst dazu. Dann aber wollte ich’s genauer wissen, und wo genau denn in meinem schönen Land dieser besonders schöne Flecken zu finden sei, so schön, dass GEO ihn festhält und unter die Menschheit verteilt, und sah nach der Bildunterschrift, und dort stand,

dass dieser schöne Flecken, den ich ohne jedes Zögern „Heimat“ genannt hätte, in Slovenien lag. In jenem Moment war mein – bewusstes – Verständnis von „Heimat“ und „Zugehörigkeit“ zum ersten Mal nachhaltig aufgerissen worden, in jenem Moment glaube ich, zum ersten Mal verstanden haben, dass beides, „Heimat“ also und „Zugehörigkeit“, das Gemeinsame, das, was zusammenhält, nicht von der Geschichte und nicht von der Politik und auch nicht von territorialen Grenzen geprägt und geschaffen wird, sondern von einer Landschaft, von einer natürlichen Umwelt, die ihren Bewohnern dieses oder ein anderes Verhalten nahelegt und aufzwingt, wenn sie, die Bevölkerung also, langfristig in ihr, der Landschaft, überleben will.

Ja, und dann – es ist weniger lange her – fiel mir der „Engel des Vergessens“ in die Hände, und ich las und las und fühlte mich die ganze Zeit daheim in der Landschaft, von der Maja Haderlap schrieb, ich kannte und (er-)kannte sie und ihre Menschen, und war doch – noch einmal! – in Slovenien.

Seither fühle ich mich gar nicht mehr wohl, wenn ich und mein Sein alleweil und von allen Seiten in ein Korsett gezwängt werden sollen, das maximal hinunter ins Trentino und hinauf bis nach Tirol geht und Euregio genannt wird, von den Einen (ganz so, als könne ein moderner Name aus einer alten Idee etwas Neues machen), und „das Alte Tirol“ von den Anderen (wie zum Beweis, dass natürlich auch ein neuer Name aus einem alten Konstrukt nichts wirklich Anderes macht). Denn die Welt, in der wir heute leben, ist nicht mehr die Welt, die vor bald 100 Jahren war und die zerrissen wurde, zweifelsohne, aber es funktioniert nicht, Scherben kitten zu wollen, deren Ränder vom Fließen der Zeit längst geschliffen, gerundet, neu geformt wurden – die Scherben passen nicht mehr zu einander, und sie können nie wieder zu einem Ganzen werden.

Weshalb ich dafür plädieren würde, dass wir doch bitteschön aufhören mögen, immerzu in den engen Grenzen der Vergangenheit zu denken, zu planen, zu operieren. Unsere Gegenwart ist ja schon heute ungleich vielfacher und vielfältiger, und wird es in Zukunft noch sehr viel stärker sein, und wir haben heute schon Möglichkeiten, unsere Fühler nach allen Richtungen auszustrecken, je nach Thema, je nach Sachverhalt immer gerade dorthin, wo der größte Nutzen, auch im Sinne von Wissen, vorhanden oder denkbar ist.

In einem Europa der Regionen die, nur mal so als Idee, nach Sach- und Themenbereichen gestaltet und verwaltet werden. Warum auch nicht?

(NB: Körpersprachen-Forscher würden zum og. Foto wohl sagen, der Renzi und der Kompatscher sind sich nicht ganz grün, so wie sie ihre jeweiligen Beine übereinandergeschlagen und nach der Seite zum jeweils anderen hin „geschlossen“ haben. Aber wollen täten sie schon, alle beide, sagen ihrer beider Fußspitzen, die zum jeweils anderen hin zeigen. Nur der Herr Faymann, der scheint nach allen Seiten offen zu sein, und sehr entspannt.)

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