Dreck, am Stecken (bzw. Schuh)

Ich komme gerade von meinem (nach Möglichkeit) täglichen Auslauf, und stelle fest: Der Frühling naht. Das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass die Wege meist kaum noch solche sind, und das Gehen mehr ein Waten ist, durch sehr viel sehr gut genässter Erde. Dreck mag ich dazu nicht sagen, denn es ist nur nasse Erde. Dreck ist was anderes (im Landesjargon nennt sich das Zeug „Lettn“, wie es sich im Deutschen nennt, wüsste ich nicht zu sagen, glaube ich.)

Das hat mir eine der unangenehmeren Situationen auf unserer langen Wanderung durch Mittelitalien in Erinnerung gerufen, eher am Anfang noch, in der Emilia Romagna, und wohl auf der Etappe von Sivizzano nach Medesano. In dieser Erinnerung stehen wir auf einer Anhöhe, eher weit unter uns das Tal, und zwischen uns und jenem Tal, in das wir wollten, beziehungsweise mussten, war dieser lange, unglaubliche nackte Hang, in zwei Hälften geteilt von „unserem“ Wege. Sonst war da nichts, außer blanker Einöde – wie frisch gepflügte, unbestellte Felder im Frühjahr halt so aussehen.

Der (ganze!) Hang war wohl gerade erst umgepflügt worden – meterdicke Schollen, glaube ich, so etwas hatte ich noch nie gesehen, bin noch heute tief beeindruckt (luxuriöse Bauerschaft, das hier, habe ich mir gedacht). Allerdings: Das Zeug war keine Erde, es war Lehm, nasser, schwerer und überaus tückischer Lehm. Und auf dem ganzen Hang, bis fast hinunter ins Tal, war nichts als dieser Lehm, kein Gras, kein Stein, kein Baum, nichts, nirgends, und mitten durch diese Lehm-Wüste schnürte unser Weg, auch er, natürlich, nichts als nasser Lehm. Praktisch liefen wir mitten durch das Feld. Ich weiß noch, wie ich da stand, und über diesen elenden Hang hinunter schaute, auf den Ort, in den wir wollten, und wie ich am liebsten verzweifelt wäre.

Ich fragte mich, wie das wohl die Bauern machen würden, bei ihrer Arbeit, auf den Feldern, aber mir wollte partout keine Erklärung einfallen. Wir jedenfalls kamen kaum voran, nur schrittweise, und selbst das nur mit Mühe, und hatten noch den ganzen, elenden Hang vor uns. Um ein Haar hätte ich die Nerven verloren, aber das hätte uns auch nicht weiter geholfen. Also rief ich mich zur Ordnung, wir mussten da durch, wir mussten da runter, aber vor allem WOLLTEN wir da runter, und das ging vermutlich am besten bei möglichst klarem Verstand.

Und so schleuderten wir – denn alles andere hatte sich als unfruchtbar erwiesen, eine bessere Lösung war uns nicht eingefallen -, nach jeweils ca. 3 bis 4 Schritten erst den einen, dann den anderen Fuß mit Schwung von uns, und wirbelten Lehmbatzen in den emilianischen Himmel, und während wir links noch schleuderten, hatten wir rechts schon wieder einen großen Batzen kleben. (Ich hoffe, von den Einheimischen hat uns niemand beobachtet.) Es zeigte sich: Das ging, und war gar nicht unlustig, wie sich heraus stellte, als der erste Ärger über diese unzumutbaren Zustände (sowas! gäb’s bei uns aber auf gar! keinen! Fall!) verraucht war. Am Ende hätten wir beinahe noch einen Höllenspaß an der Sache gehabt, merkten aber rasch: Oha! Das geht auch ohne Schleudern:

Man geht nämlich einfach weiter, als sei nichts, und geht so lange einfach immer weiter – eh nur wenige Schritte – bis der Lehmbatzen dank seines rasch wachsenden Eigengewichts in Eigenregie, ganz still und völlig mühelos… vom Schuh fällt. Und dann macht man einfach so weiter.

Tja. Andere Länder, andere Sitten, anderer Lettn, habe ich mir gedacht, und so einfach ist das.

Danach marschierten wir – höllisch erleichtert! – munter und gut gelaunt in Richtung Tal, und freuten uns aber doch mächtig, als wir – endlich – dem tückischen Lehm (rutschiger Lehm am Schuh, dazu rutschiger Lehm unter dem Schuh, und beides in schönster Hanglage – das ist KEINE freundliche Kombination!) glücklich entwichen waren und wieder Gras und trockenen Boden unter unseren Füßen hatten. Ich hätte nie gedacht, welche Freude es auslösen kann, lehmige Schuhe an Gräsern trocken und sauber zu reiben, und welche Glücksgefühle, auf einer trockenen Straße gen Tagesziel zu marschieren.

Ja, so einfach ist das.

PS: Das Titelbild stammt nicht von mir, beschreibt nichtsdestotrotz unsere Situation recht gut – mit dem Unterschied, dass unser Hang absolut nackt und blank war. Nur lehmige Erde, und sonst nichts.

Ostereier „peckn“ in Fiorenzuola d’Arda (PC)

Fiorenzuola d’Arda ist ein kleines Städtchen mit etwa 15.000 Einwohnern, in der Provinz Piacenza und mithin in der Emilia Romagna. Es war unsere dritte Etappe seit unserem Aufbruch in Pavia – eine, Orio Litta, hatten wir, im wahrsten Sinne des Wortes, links liegen gelassen, geschluckt gewissermaßen (heute weiß ich, dass so etwas eher unvorsichtig ist, und gut und gerne böse enden könnte. Aber wir hatten, in unserer Blauäugigkeit, wohl auch einen Haufen Glück. Alles ging letztlich gut, immer).

Am Abend, nachdem wir uns unserer Rucksäcke entledigt hatten, machten wir uns wie immer auf die Suche nach einem Ort zum Abendessen. Das Abendessen wurde sehr schnell zu unserem täglichen Highlight: Wir waren mal mehr, mal weniger müde, aber immer zufrieden, vermutlich, weil das Tages-Soll geschafft, alles gut gegangen und das Dach überm Kopf für die Nacht gesichert war. Solche „Kleinigkeiten“, an die man üblicherweise gar nicht denkt, hatten plötzlich eine ganz neue Bedeutung, und so war vermutlich das Abendessen ein Moment der tieferen Entspannung. Entsprechend sorgfältig suchten wir auch stets nach einem „guten“ Ort – nur wenig kann tiefer enttäuschen wie schlechtes Essen an einem lieblosen Ort, wenn man sich auf gutes Essen an einem guten Ort gefreut hat. In Fiorenzuola d’Arda aber ließen wir das Suchen bald sein: Die Auswahl schien gering, wir waren hungrig, vielleicht auch ein wenig gereizt – nach kaum drei Tagen fühlte sich unser neuer Status der Fernwandererin noch ganz neu und ungewohnt an, wir waren noch nicht wirklich angekommen, in unseren neuen Kleidern – und begnügten uns mit der naheliegendsten Pizzeria (Pizzeria mit Restaurant bzw. umgekehrt – Kombinationen, die ich im allgemeinen eher meide).

Dort saßen wir also und wunderten uns über den übellaunigen Wirt, als mein Blick auf ein Wandbild fiel, auf der hohen Vorderseite des Tresens, hinter dem der Pizzaiolo seine Teigfladen wirbelte: Das Bild zeigte, ganz eindeutig und also für mich, an diesem Ort, eher unglaubwürdig, zwei Menschen, einen Mann und eine Frau, die beide je ein Ei in ihren Händen hielten und – ich hätte es schwören mögen – peckten. So heißt, was die beiden taten, bei uns, in Südtirol.

Allerdings: Wie sollte das sein? Ist etwa Ostereierpecken nicht ganz und gar „typisches“ Südtiroler, jedenfalls aber ganz und gar kein italienisches Brauchtum? Saßen wir aber etwa nicht in einem Lokal in der Emilia Romagna?

Jenes Bild aber, an jenem Tresen dort, erzählte eine andere Geschichte – und ließ mir keine Ruhe: Es war ja auch gar zu kurios. Nachdem auch meine Tochter sich danach umgedreht und mir bestätigt hatte, doch, auch sie würde sagen, dass die beiden „peckten“, bat ich den übellaunigen Wirt an unseren Tisch und fragte ihn nach der Bedeutung jenes Bildes.

Der Mann war sichtlich erfreut über mein Interesse, jedenfalls erhellte sich seine Miene, als er freudig berichtete, es handle sich um einen typischen (!) Osterbrauch in Fiorenzuola d’Arda: Die Einwohner klopfen bei dieser Ostertradition hart gekochte und bunt gefärbte Ostereier gegeneinander. Sieger ist, wessen Ei am längsten bzw. den meisten gegnerischen Eiern standhält. Das alles wusste ich natürlich längst, was ich dem Mann aber nicht sagte, vielleicht, weil ich nach dieser Er-Klärung noch ein wenig verwirrter war als vorher. Denn, fragte ich mich jetzt noch mehr als vorher: Wie kann es sein, dass ein und derselbe Brauch – identische Idee, identisches Timing, identisches Vorgehen – in der Emilia Romagna und in Südtirol gleichermaßen gepflegt und praktiziert wird? Hat doch Südtirol – an Geist zumal – mit jener Region des „richtigen“ Italien so gut wie gar nichts – wahrscheinlich nicht einmal das – gemein? Und jedenfalls wohl kaum Traditionen älteren Ursprungs? Und speisen sich doch – so will man uns halt glauben machen – all unser Brauchtum und alle unsere Traditionen so gut wie ausschließlich aus „deutschen“ und mithin nördlichen Kulturkreisen?

Ganz so einfach und eng gestrickt scheinen aber die Dinge dann doch nicht zu sein – die österliche Tradition des Eierpeckens in Fiorenzuola d’Arda, Provinz Piacenza, Region Emilia Romagna zumal spricht eine andere Sprache und lässt eine Vermutung – eine Hoffnung? – aufkeimen, die ich viel schöner finde, und wichtiger sowieso:

Wir sind alle schon längst, und vielleicht gar seit jeher, viel trans- oder auch: interkultureller, als viele von uns gern glauben würden, und jedenfalls als manche uns gern glauben lassen würden.

Wie auch immer: Als wir nach etwa einem Monat wieder zuhause waren, war dieser Osterbrauch von Fiorenzuola d’Arda eines der ersten Dinge, nach denen ich googelte (http://comune.fiorenzuola.pc.it/) und endgültig bestätigt fand: Es handelt sich um identisches Brauchtum. Allein die Verbindung, die Gründe für dieses Band zwischen Südtirol und der Emilia Romagna, konnte ich mir bisher nicht erschließen.

Tradizioni

Pont e Cül

Ogni anno, nella giornata di Pasqua, il paese di Fiorenzuola d’Arda, diventa teatro di una singolare manifestazione, che ha come protagonista l’uovo. Fin dai tempi antichi, l’uovo è stato uno dei simboli per eccellenza della Pasqua, in quanto, quest’ultima rappresenta la festa della vita e della Resurrezione. La festa prevede la partecipazione di moltissime persone e prende il nome dalle due estremità dell’uovo. La ponta e il cull è un’originale prova di abilità, durante la quale si utilizza una grande quantità di uova sode.

Durante la festa, le strade e le piazze della città sono invase da uomini e donne di tutte le età che si sfidano in una divertente battaglia. I giocatori si sfidano a due a due, muniti di un uovo sodo le cui estremità vengono chiamate “ponta” (la punta) e “l’cull” (il fondo). Si inizia facendo punta contro punta e, se questa si rompe, si fa fondo contro fondo. Se l’uovo si rompe da entrambe le parti, lo si cede al vincitore che passa a sfidare un altro concorrente.

Die Qual der Wahl

… hatte ich nicht wirklich. Heute wäre das vielleicht anders, denn meine Wahrnehmung in Sachen „Fernwanderwege“ ist mittlerweile maximal geschärft: Ich weiß jetzt, dass es eine sehr große Vielfalt (*) sehr schöner Fernwanderwege gibt, auch in niedrigeren Höhenlagen und also auch für mich geeignet, die ich seit der Geburt meiner Tochter unter einer ebenso unerklärlichen wie absurden Höhenangst leide. So etwas wie der E45 wäre also für mich schon aus diesem Grunde keine Option. Zudem finde ich Berge schön, die Talböden mit ihren Menschen-Geschichte(n) aber ungleich spannender. Jedenfalls aber habe ich über die Jahre und Jahrzehnte gelernt, dass die Qual der (großen Aus-)Wahl fast immer eine Einbildung ist: Meist löst sich eine anfängliche und nur scheinbare Myriade von Möglichkeiten sehr schnell in wenig mehr als – im schlimmstmöglichen Fall – eine Handvoll tatsächlicher Optionen auf.

In unserem Falle ging das so:

1. Ich hatte nur im Frühjahr Zeit, von etwa Ende März bis maximal Anfang/Mitte Mai; Höhenwanderwege schließen sich um diese Jahreszeit von allein aus, zudem ist da ja noch meine erbärmliche Höhenangst;

2. Im Frühjahr ist im allgemeinen der Süden reizvoller als der Norden – für mich allemal: Ich ziehe die südlichen Erdteile zu allen Jahreszeiten vor;

3. Die klimatischen, wahrscheinlichen Bedingungen und Unwägbarkeiten legen um diese Jahreszeit ebenfalls den Süden näher als den Norden;

4. Ich wollte die Anreise auf ein absolutes Mindestmaß reduzieren; am liebsten wäre ich bei meiner Haustür gestartet (ich neige dazu, ein Alles-oder-gar-Nichts-Typ zu sein, aber manchmal lassen sich Kompromisse auch beim besten aller Willen nicht vermeiden);

5. Ich hatte keine Lust auf Wandererhorden, wie sie – so wird berichtet – auf dem berühmtesten aller Fernwanderwege, dem Jakobsweg, unterwegs sind;

6. Ich habe eine große Schwäche für alles, was Geschichte hat;

7. Ich wollte weit, aber nicht zu weit gehen, und auf einem Weg, der als solcher „gekennzeichnet“ und einigermaßen bekannt ist. Mehr „Abenteuer“ ging sich zeitlich nicht aus.

Nicht zuletzt gestehe ich gern: Italien, dieses Land, seine Kultur seine Natur seine Küche seine Menschen und überhaupt wird wohl nie aufhören, mich anzuziehen und zu faszinieren.

Ich muss aber schon auch sagen, dass ich nicht groß recherchiert habe, als im Sommer letzten Jahres in mir die Idee reifte, dass ich ja vielleicht, wenn sich alles gut fügt und die Dinge entsprechend entwickeln, im Frühjahr 2014 so eine Fernwanderung möglicherweise machen könnte (was mir damals eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich erschien).

Und so konnte ich gar nicht anders, als bei „Via Francigena“ zu landen. Diese Landung habe ich keine Sekunde bereut: Wir hätten keinen besseren Einstiegsweg finden und keine bessere Wahl treffen können.

Vielleicht hatten wir aber auch „nur“ sehr viel Glück, und waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Denn eins ist ziemlich sicher: Im (Hoch-)Sommer macht diese Route über weite Strecken vermutlich sehr viel weniger Freude.

(*) Zum Beispiel stelle ich mir diesen hier Der Lykische Pfad (Türkei)  sehr schön und sehr spannend vor, oder einen der (anderen) Kulturwege des Europa-Rates: Itinerari Culturali del Consiglio d’Europa.

PS: In Pavia, gleich hinter der überdachten Brücke, sahen wir das Schild wie oben im Bild zum ersten Mal – Katerina hatte es als erste erspäht -, und wir wurden beide ganz aufgeregt. Es sollte uns ein guter, treuer, wenn auch hin und wieder unzuverlässiger Wegbegleiter werden.