Wie alles anfing

Ich fange jetzt einfach mal an. Die Eindrücke – wohl zu viele, über einen zu kurzen Zeitraum – fühlen sich immer noch an wie ein dicker Klumpen irgendwo in meinem Inneren, und irgendwie wiegt der Klumpen erstaunlich schwer. Manchmal kommt mir das alles – also dass meine Tochter und ich in einem Monat mehr als 750 = siebenhundertfünfzig Kilometer zu Fuß durch Italien gelaufen sein sollen – einfach nur unwirklich vor. Ist das möglich? Haben wir das wirklich gemacht? Andererseits macht mich der Gedanke daran, wenn ich also daran denke, DASS wir es tatsächlich gemacht haben, und dass wir es geschafft haben, einfach nur glücklich.

Wir hatten eine verdammt gute Zeit, Katerina und ich.

Aber ich wollte ja davon sprechen, warum ich (denn ursprünglich wollte ich allein losziehen) mir das antun wollte. Dafür muss ich ein bisschen weiter ausholen, etwa acht Jahre zurück, als ich, von jetzt auf danach, wie man hier zu sagen pflegt, mit dem Rauchen aufhörte, ich, heftige Raucherin seit bald 20 Jahren, und unzählige gescheiterte Aufhör-Versuche hinter mir. Jenes eine Mal aber, an jenem frühen Morgen, an dem ich überraschenderweise keine Zigaretten mehr im Haus hatte, und mir einfach sagte, ach nee, du gehst jetzt keine holen, du kannst genauso gut aufhören, jenes Mal war „la volta buona“. Ich habe seither keine Zigarette mehr angerührt, und ich würde darauf schwören, dass ich das nur geschafft habe, weil ich angefangen habe, zu gehen.
Nicht mehr und nicht weniger, dafür aber täglich, bei jedem Wetter, mindestens eine Stunde. Beim Gehen habe ich mich abreagiert, habe die Entzugserscheinungen einfach weg geschwitzt, und als ich wieder nach Hause kam, war ich – für diesen Tag – geheilt.

Dann, nach ein paar Wochen, waren die körperlichen Entzugserscheinungen verschwunden – die geistigen blieben noch ein Weilchen, aber mit denen konnte ich umgehen – und ich hatte jetzt genügend Freiraum, festzustellen, wie gut mir das Gehen tat, wie ich meinen Kopf dabei frei bekam, und wie ich unweigerlich mit einer Lösung, einer Idee oder einfach nur mit einem „Boah, geht’s mir gut“ zurück kam.

Das hat mich neugierig gemacht. Konnte es sein, dass etwas so Simples wie „Gehen“ so großartige Wirkungen haben konnte? Kann es. Ich stellte fest, dass sehr viel über die Segnungen des Gehens geschrieben wurde und wird, ganze Bücher, und dass schon Hippokrates wusste, was sich seither nicht geändert hat: Gehen ist die beste Medizin. Dabei blieb ich, denn es war einfach, und wurde zur leidenschaftlichen Geherin, so sehr, dass ich mich irgendwann fragte, wie es wohl sein müsse, einmal sehr lange zu gehen, ohne umkehren zu müssen, immer nur nach vorne und noch weiter nach vorne.

Und damit war der Wunsch gesetzt, und wenn der Wunsch stark genug ist, dann wird er, früher oder später, umgesetzt.

Notabene: Ich bin eine sehr gelassene Ex-Raucherin: Im Gegensatz zu anderen, die aufgehört haben mit dem Laster, kann ich ohne weiteres mitten drin sitzen oder stehen in einem Haufen RaucherInnen, und mich pudelwohl dabei fühlen. Absolut und überhaupt kein Problem.

Dreck, am Stecken (bzw. Schuh)

Ich komme gerade von meinem (nach Möglichkeit) täglichen Auslauf, und stelle fest: Der Frühling naht. Das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass die Wege meist kaum noch solche sind, und das Gehen mehr ein Waten ist, durch sehr viel sehr gut genässter Erde. Dreck mag ich dazu nicht sagen, denn es ist nur nasse Erde. Dreck ist was anderes (im Landesjargon nennt sich das Zeug „Lettn“, wie es sich im Deutschen nennt, wüsste ich nicht zu sagen, glaube ich.)

Das hat mir eine der unangenehmeren Situationen auf unserer langen Wanderung durch Mittelitalien in Erinnerung gerufen, eher am Anfang noch, in der Emilia Romagna, und wohl auf der Etappe von Sivizzano nach Medesano. In dieser Erinnerung stehen wir auf einer Anhöhe, eher weit unter uns das Tal, und zwischen uns und jenem Tal, in das wir wollten, beziehungsweise mussten, war dieser lange, unglaubliche nackte Hang, in zwei Hälften geteilt von „unserem“ Wege. Sonst war da nichts, außer blanker Einöde – wie frisch gepflügte, unbestellte Felder im Frühjahr halt so aussehen.

Der (ganze!) Hang war wohl gerade erst umgepflügt worden – meterdicke Schollen, glaube ich, so etwas hatte ich noch nie gesehen, bin noch heute tief beeindruckt (luxuriöse Bauerschaft, das hier, habe ich mir gedacht). Allerdings: Das Zeug war keine Erde, es war Lehm, nasser, schwerer und überaus tückischer Lehm. Und auf dem ganzen Hang, bis fast hinunter ins Tal, war nichts als dieser Lehm, kein Gras, kein Stein, kein Baum, nichts, nirgends, und mitten durch diese Lehm-Wüste schnürte unser Weg, auch er, natürlich, nichts als nasser Lehm. Praktisch liefen wir mitten durch das Feld. Ich weiß noch, wie ich da stand, und über diesen elenden Hang hinunter schaute, auf den Ort, in den wir wollten, und wie ich am liebsten verzweifelt wäre.

Ich fragte mich, wie das wohl die Bauern machen würden, bei ihrer Arbeit, auf den Feldern, aber mir wollte partout keine Erklärung einfallen. Wir jedenfalls kamen kaum voran, nur schrittweise, und selbst das nur mit Mühe, und hatten noch den ganzen, elenden Hang vor uns. Um ein Haar hätte ich die Nerven verloren, aber das hätte uns auch nicht weiter geholfen. Also rief ich mich zur Ordnung, wir mussten da durch, wir mussten da runter, aber vor allem WOLLTEN wir da runter, und das ging vermutlich am besten bei möglichst klarem Verstand.

Und so schleuderten wir – denn alles andere hatte sich als unfruchtbar erwiesen, eine bessere Lösung war uns nicht eingefallen -, nach jeweils ca. 3 bis 4 Schritten erst den einen, dann den anderen Fuß mit Schwung von uns, und wirbelten Lehmbatzen in den emilianischen Himmel, und während wir links noch schleuderten, hatten wir rechts schon wieder einen großen Batzen kleben. (Ich hoffe, von den Einheimischen hat uns niemand beobachtet.) Es zeigte sich: Das ging, und war gar nicht unlustig, wie sich heraus stellte, als der erste Ärger über diese unzumutbaren Zustände (sowas! gäb’s bei uns aber auf gar! keinen! Fall!) verraucht war. Am Ende hätten wir beinahe noch einen Höllenspaß an der Sache gehabt, merkten aber rasch: Oha! Das geht auch ohne Schleudern:

Man geht nämlich einfach weiter, als sei nichts, und geht so lange einfach immer weiter – eh nur wenige Schritte – bis der Lehmbatzen dank seines rasch wachsenden Eigengewichts in Eigenregie, ganz still und völlig mühelos… vom Schuh fällt. Und dann macht man einfach so weiter.

Tja. Andere Länder, andere Sitten, anderer Lettn, habe ich mir gedacht, und so einfach ist das.

Danach marschierten wir – höllisch erleichtert! – munter und gut gelaunt in Richtung Tal, und freuten uns aber doch mächtig, als wir – endlich – dem tückischen Lehm (rutschiger Lehm am Schuh, dazu rutschiger Lehm unter dem Schuh, und beides in schönster Hanglage – das ist KEINE freundliche Kombination!) glücklich entwichen waren und wieder Gras und trockenen Boden unter unseren Füßen hatten. Ich hätte nie gedacht, welche Freude es auslösen kann, lehmige Schuhe an Gräsern trocken und sauber zu reiben, und welche Glücksgefühle, auf einer trockenen Straße gen Tagesziel zu marschieren.

Ja, so einfach ist das.

PS: Das Titelbild stammt nicht von mir, beschreibt nichtsdestotrotz unsere Situation recht gut – mit dem Unterschied, dass unser Hang absolut nackt und blank war. Nur lehmige Erde, und sonst nichts.